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70 Jahre Darmstädter Brandnacht
Darmstädter Vergangenheitsbewältigung und der Mythos von unschuldigen deutschen Opfern
In der Nacht vom 11. zum 12. September 1944 bombardiert die „No. 5 Bomber Group“ der britischen Royal Air Force (RAF) auf Befehl des Luftmarschalls Arthur Harris Darmstadt.1 Es ist einer von 20 Angriffen im Jahr 1944 und von insgesamt 36 zwischen Juli 1940 und dem 14. März 1945. Während des schwersten Luftangriffs auf Darmstadt im Zweiten Weltkrieg starben 6049 Menschen, wurden 3749 verwundet und sind 4502 vermisst, die aber höchstwahrscheinlich ebenfalls den Tod fanden. Von ehemals 115.000 Einwohnern in Darmstadt zu Beginn des Krieges, lebten nach dem 12. September nicht mal mehr die Hälfte in der Stadt, woran der Bombenangriff einen großen Anteil hatte.2 Hohes individuelles Leid, was durch eine kollektive Schuld und Verantwortung der normalen Deutschen begründet ist bzw. hervorgerufen wurde. Im Folgenden soll die Bedeutung Darmstadts und vor allem die Bedeutung der deutschen, national-sozialistisch gesinnten Bevölkerung für das Funktionieren des völkischen und antisemitischen Faschismus im deutschen Reich erörtert werden. Die Ursache der Luftangriffe durch die Alliierten auf Deutschland war der Nationalsozialismus, der auch in Darmstadt sehr gut funktionierte.
Nationalsozialismus in Darmstadt
Zur Kommunalwahl 1929 kommt die Fraktion der NSDAP schon auf fünf Sitze, was 10,5% der Stimmen entspricht. Zu diesem Zeitpunkt lag das Ergebnis der faschistischen Partei schon über dem Bundesdurchschnitt. Dieser Trend setzt sich 1930 mit 24,4% (landesweiter NSDAP-Schnitt: 18,3%; Wahlbeteiligung: 82%) und 1933 mit 50% (landesweit: 44%; Wahlbeteiligung: 88,74%) bei den Reichstagswahlen stetig fort. Die Märzwahlen ’33 waren die letzten freien Wahlen, die aber dennoch eine breite nationalsozialistische Gesinnung der Bevölkerung darlegten. 3 Direkt nach der Regierungsübernahme am 06. März 1933 wird am langen Ludwig auf dem Luisenplatz und am Gewerkschaftshaus (damals Bismarckstraße) die Hakenkreuzflagge gehisst. Drei Tage später am 09. März stehen erstmal SA-Boykott-Posten vor jüdischen Geschäften in Darmstadt. Zur selben Zeit wird „undeutsche“ Literatur in der Stadtbibliothek aussortiert und die Technische Hochschule (heute TU Darmstadt) meldet am 01. April „judenfrei“, was das Landestheater 1937 nachholen kann. Am 03. Juli 1938 kann die gleichgeschaltete Hessische Landzeitung auch von den großartigen Darmstädter Verdiensten berichten:“Es gibt wohl wenige Städte in Deutschland, in denen die Arisierung des Einzelhandels so rasch und so durchschlagend vorangeschritten ist wie in unserer Vaterstadt Darmstadt.“ 4
1942 und 1943 konnte sich das ehemalige Großherzogtum sogar in die industrielle Massenvernichtung einbringen. So diente die Liebig-Oberschule als Durchgangs- bzw. Sammellager für südhessische Juden nach Auschwitz, Lublin, Maidanek und Theresienstadt. Nach der Sammlung und Registrierung in den Schulgebäuden und auf dem Hof wurden die jüdischen Menschen zum Güterbahnhof getrieben, wo sie in Viehtransporter verladen wurden. Es gab drei große Margen der „Judenevakuierung“, wie es im NS-Jargon hieß, vom Pausenhof der Liebig Oberschule: am 20. März 1942 1000 Juden nach Lublin (164 aus Darmstadt stammend); 27. September 1942 1288 Juden nach Theresienstadt (188 aus Darmstadt stammend) und am 30. September 1942 883 Juden in das Generalgouvernement (Polen). Die letzte offizielle und bekannte Deportation fand imFebruar 1943 statt, als alte und kranke Juden aus einem Altersheim in der Eschollbrücker Straße (Rosenthalsche Klinik) nach Theresienstadt deportiert wurden. Auch in Darmstadt ist die Deportation ein Ausdruck deutscher Gründlichkeit.5 Davon zeugt auch die Aussage eines Kriminalbeamten, der bei der Registrierung und Deportation der Darmstädter Juden anwesend war: „Bei der Aktion in Darmstadt ist es zu keinen Tötungen gekommen. Mir ist auch nicht bekannt, daß jemand gestorben ist. Es ging hier in Darmstadt ganz korrekt zu.“6 Dass der erste Teil des Zitats wohl zum Schema der deutschen Schuldabwehr gehört, belegen Augenzeugen der „Judenmärsche“ zum Bahnhof, die von Stockhieben der SA-Bewacher und dem Zusammenbrechen alter Menschen berichten.7 Im Juni 1943 kann schließlich ganz Darmstadt „judenfrei“ vermelden.
Auch Sinti und Roma sind aus Darmstadt in Konzentrationslager deportiert worden. So wurden am 16. Dezember 1942 die verbliebenen Darmstädter Sinti und Roma auf Erlass von Heinrich Himmler persönlich nach Auschwitz deportiert.8 Dass die Deportationsfrage Darmstädter selbst heute noch umtreibt, zeigt die mehrmalige Zerstörung des Deportationsdenkmals am Darmstädter Güterbahnhof 2006 und 2013.
Darmstädter Nazi Prominenz
Doch nicht nur die kollektive Gesinnung der Heiner war eindeutig – es konnten auch berühmte NSDAP Kader vorgewiesen werden.
Einer davon war Hans Stark, SS-Mitglied aus Darmstadt und Leiter der Aufnahmeabteilung im KZ Auschwitz. Er gilt als einer der brutalsten SS-Aufseher in Auschwitz, bekam 1965 die Höchststrafe nach Jugendstrafrecht von 10 Jahren, wurde aber bereits 1968 wieder entlassen.9 Oder aber auch Robert Mohr, der Leiter der Darmstädter Staatspolizeistelle war. Er war hauptverantwortlich für die Organisation der Deportation der Darmstädter Juden. Nach dem Krieg wurde er zu acht Jahren Haft wegen Mithilfe zum Mord in mehreren tausend Fällen in der heutigen Ukraine verurteilt.10 Der bekannteste Darmstädter SS-Mann war aber Werner Best. Er machte sich als SS-Obergruppenführer verdient und war einer der einflussreichsten Planer des Polizeiapparats der GESTAPO. Dadurch wurde er mitschuldig an mindestens 8723 Morden. Nach dem Ende seiner SS-Karriere behinderte er maßgeblich Ermittlungen der Alliierten, bspw. während den Nürnberger Prozessen. Für seine Vergehen bekam er maximal acht Jahre Haft.11 Doch selbst nach dem Krieg gingen die Darmstädter Nazi-Karrieren weiter. Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg, geboren in Darmstadt, gründete die Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte, die ehemalige Nazi-Verbrecher auf der Flucht oder von den Alliierten Gefangene finanziell und mental unterstützte.12
Britischer Angriff – keine „Massenvernichtungsgruppe Nr.5“!13
Es ist also eindeutig, dass die Darmstädter in der Masse die selbe Nazieinstellung und den selben Führergehorsam, wie der Rest der Deutschen vorweisen konnten. Somit kann von einem Opferstatus der Darmstädter nicht gesprochen werden – doch welche Ziele verfolgten und erreichten die Briten mit ihrem Flächenbombardement am 12.09.1944
Zunächst einmal sollte, wie bei allen Luftangriffen auf deutsche Städte, die deutsche Kriegsmotivation gebrochen werden. Gleichzeitig konnten durch das Errichten einer innerdeutschen Front, die Ost- und Westfront entlastet werden. Durch die Luftpräsenz sind 2/3 der deutschen Luftwaffe und 1/3 der Artillerie zerstört worden und konnten so nicht im Osten gegen die Sowjets oder im Westen gegen die Amerikaner bzw. Briten eingesetzt werden.14 Daneben gab es noch kleinere militärische Erfolge zu vermelden, wie bspw. die Zerstörung eines Munitionszuges am Südbahnhof oder die Vernichtung einer Munitionskolonne auf der Rheinstraße.15 Gleichzeitig wurde die Firma Rhöm & Haas getroffen, die Acrylglas herstellte, welches unabdingbar für den Bau deutscher Kampfflugzeuge war.16 Auch die Technische Universität, an der sich das Institut für praktische Mathematik unter der Leitung Prof. Alwin Walthers mit der Entwicklung kriegswichtiger Rechenautomaten hervor tat, wurde getroffen.17 Zudem konnte auch die TH-übergreifende Raketenforschung nicht mehr fortgesetzt werden. Darüber hinaus wurde auch die ideologische Komponente des deutschen Faschismus getroffen: Ca. 10.000 bis 15.000 Zwangsarbeiter konnten befreit werden, sofern sie nicht den Flammen und Bomben zum Opfer fielen. Gleichzeitig wurde das GESTAPO-Gefängnis in der Rundeturmstraße zerstört, welches ungefähr zwei Wochen (Inbetriebnahme: 31.08.1944) als KZ-Außenlager für das KZ Natzweiler diente.18
Vergangenheitsbewältigung und Darmstädter Mythenbildung
Wie aber ging Darmstadt mit seiner Vergangenheit nach 1945 um? Trifft die Aussage des israelischen Soziologen und Pädagogen Yair Auron zu?: „Bedauernswert ist […], dass die Judenverfolgung weder im breiteren Zusammenhang mit dem Antisemitismus in Europa, noch in Deutschland insbesondere behandelt wird.“19 Dies muss wohl entschieden mit ja beantwortet werden, wie man bspw. am Darmstädter Stadtlexikon erkennen kann. Der Inhalt erinnert an die Geschichtsschreibung Hans Mommsens, der den Holocaust wie folgt erklärt: „Die auf Dauerkonkurrenz sich auflösender Institutionen ausgerichtete Struktur des Regimes trieb […] einen kumulativen Radikalisierungsprozess in eine Richtung voran, an deren Ende zwangsläufig die Liquidierung der Juden stand.“20 Demnach sei die Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland eine notwendige Konsequenz von marktwirtschaftlichen Strukturen und ihrer Eigendynamiken gewesen. Die Deutschen seien also dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zum Opfer gefallen, was sie zumindest kollektiv von jeglicher Verantwortung für die Shoah frei spricht. Dieser Tendenz folgend ist es nur konsequent, dass die Beschreibung der Brandnacht im Stadtlexikon mehr Platz einnimmt als die Darmstädter Tätergeschichten.
Die wenigen positiven Elemente der Darmstädter NS-Zeit, wie bspw. Lord Frederick Cherwell, einem ehemaligen Studenten aus Darmstadt, der militärischer Berater Churchills war und aufgrund seiner umfassenden Ortskenntnisse einen großen Anteil an dem erfolgreichen Angriff hatte, wird als eine Art Kriegsverbrecher dargestellt.21 Wir haben es also mit einer Art doppeltem Opfermythos zu tun, der typisch für ganz Deutschland ist: einerseits von außen durch die RAF und andererseits von innen durch das in Deutschland herrschende System, welches den Deutschen aufgezwungen war und sie beherrschte. Dies entspricht einer kruden Auffassung von Totalitarismus, wonach Individuen in totalitären Systemen keine Möglichkeit zum Widerstand haben, also im Nachhinein nicht individuell zur Verantwortung gezogen werden können, da ihr Handlungsspielraum klar vorgegeben war. Der sozialdemokratische und kommunistische Widerstand, der auch in Darmstadt vorhanden war, spricht eine andere Sprache.
Ein weiteres Glanzlicht Darmstädter Vergangenheitsbewältigung stellt das Buch „Feuersturm und Widerstand – Darmstadt 1944“ von Fritz Deppert und Peter Engels dar. Hierin werden die Darmstädter Brandnacht („Feuersturm“) und der antifaschistische Widerstand nebeneinander gestellt. Es soll anhand der Bombennacht und des Widerstands der Mythos der unschuldigen Deutschen weitergesponnen werden. Das Buch wurde zum 60. Jahrestag im Auftrag des Darmstädter Magistrats und des damaligen OB Peter Benz herausgegeben. Auch der erste Nachkriegsbürgermeister Ludwig Metzger hatte eine verdrehte Sicht auf die Vergangenheit. So entließ er nur 20 bis 30 seiner Beamten statt der 150 von der amerikanischen Militärregierung als Nazis identifizierten – das amerikanische Projekt Entnazifizierung scheiterte in Darmstadt also am deutschen Widerstand.22 Metzger hatte auch ein klares Bild von Emigranten des Dritten Reichs. So bezog er klar Stellung gegen Thomas Mann, weshalb das Josef Strauß Zitat über Willy Brandt auch ihm in den Mund gelegt werden könnte: „Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“23 Selbst 2006 lehnte die Darmstädter Stadtverordnetenversammlung noch einen von 1200 zum Teil namhaften Autoren und Historikern unterzeichneten Appell ab, der forderte, die städtischen Ehrengräber neu zu bewerten und zum Beispiel ehemalige Nazis und Kriegsverbrecher zu entfernen.
Ausblick auf den 70. Jahrestag 2014
Man kann erkennen, dass in der Vergangenheit eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Darmstädter Vergangenheitsbewältigung vorhanden war. Wir stellen uns klar gegen geschichtsrevisionistische Ansätze, die Deutschland eine Opferrolle in Bezug auf die Bombenangriffe zuschreiben wollen. Vor den Kriegshandlungen der Alliierten stand der industrielle Massenmord an sechs Millionen Juden, ein völkischer Imperialismus und der deutsche Faschismus in seiner Gesamtheit. Ohne die jubelnden Massen an deutschen Bürgern wäre dieser Verbrechen nicht möglich gewesen und das kollektive Gedenken reiht sich in diesen nationalistischen Volksgedanken wieder ein. Daher fordern wir für den 11.09.2014, dass Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden. Deutsche Täter sind keine Opfer.
Die kollektive Erinnerung an das, was geschehen ist, gehört allein den Juden für die die Bomben der Royal Air Force zu spät kamen; den Zwangsarbeitern, die sich bereits zu Tode geschuftet hatten, all denen, die dem deutschen Vernichtungsprojekt zum Opfer fielen; gedacht werden soll den gestorbenen Soldaten der Anti-Hitler-Koalition, die unter Einsatz ihres Lebens Juden unterstützt haben; allen, die sich der deutschen Barbarei entschlossen entgegenstellten und SONST NIEMANDEM.
1 Schmidt, Klaus 2003: Die Brandnacht. Dokumente von der Zerstörung Darmstadts. Darmstadt, S. 5f.
2 ebd., S.13
3 Skroblies, Hannelore/ Jetter, Christoph 2011: Widerstand und Verfolgung in Darmstadt in der Zeit des Nationalsozialismus. Darmstadt, S. 6f.
4 Hessische Landeszeitung vom 3. Juli 1938
5 Heß, Renate/ Nichtweiss, Lisette/ Zahedi, Ingrid 1992: Juden-Deportationen aus Darmstadt 1942/43. Darmstadt, S.11f.
6 ebd., S. 18
7 ebd., S. 19
8 Skroblies, Hannelore/ Jetter, Christoph 2011: Widerstand und Verfolgung in Darmstadt in der Zeit des Nationalsozialismus. Darmstadt, S. 14
9 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 13f.
10 ebd., S. 34 ff.
11 Skroblies, Hannelore/ Jetter, Christoph 2011: Widerstand und Verfolgung in Darmstadt in der Zeit des Nationalsozialismus. Darmstadt, S. 53
12 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 44f.
13 Friedrich, Jörg 2002: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945. München, S. 354
14 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 53
15 Schmidt, Klaus 2003: Die Brandnacht. Dokumente von der Zerstörung Darmstadts. Darmstadt, S. 7f.
16 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 54
17 Pulla, Ralf 2010: „Vorhaben Peenemünde“. Die TH Darmstadt im raketentechnischen Netzwerk des „Dritten Reiches“ In: Dinckal, Noyan/ Dipper, Christof/ Mares, Detlev (Hg.): Die Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Darmstadt, S. 115f.
18 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 54
19 Auron, Yair 2005: Der Schmerz des Wissens: Die Holocaust- und Genozid-Problematik im Unterricht. Lich, S. 193
20 Mommsen, Hans: „Die dünne Patina der Zivilisation“, Die Zeit, 30. August 1996, S.15
21 Kautz, Fred 2008: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht…“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexikon Darmstadt“. Lich, S. 52 f.
22 ebd., S. 65
23 ebd., S. 123ff.